Verunsicherung nach „Stechuhr-Urteil“ des BAG
Das Urteil des BAG zum Az. 1 ABR 22/21 überrascht die Arbeitgeber, denn es verpflichtet wohl zur Arbeitszeiterfassung in jedem Beschäftigungsverhältnis. Die Entscheidung gilt arbeitsrechtlich als „Paukenschlag“, als „faustdicke Überraschung“, und sorgt für Verunsicherung bei jedem Arbeitgeber. Was für Folgen sich daraus in der Praxis ergeben, kann man schwer abschätzen. Die Urteilsbegründung steht noch aus. Bisher gibt es nur eine Pressemitteilung des obersten deutschen Arbeitsgerichts.
Ausgangspunkt dieser möglicherweise weitreichenden Entscheidung für die Arbeitswelt war indes kein Streit um das Arbeitszeitgesetz oder die Arbeitszeit selbst. Es ging um etwas ganz anderes.
Worum ging es?
Die Beteiligten – die Betreiber einer vollstationären Wohneinrichtung und der Betriebsrat – stritten vor dem Arbeitsgericht Minden um das Verständnis einer Norm im Betriebsverfassungsgesetz. Es ging darum, ob dem Betriebsrat gegenüber dem Arbeitgeber ein Initiativrecht zur Einführung einer elektronischen Arbeitszeiterfassung im Betrieb zustehe. Das Arbeitsgericht Minden verneinte dies. In der zweiten Instanz gab das LAG Hamm dem Betriebsrat jedoch Recht. Die einschlägige Vorschrift des § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG regele das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei „der Einführung und der Anwendung von technischen Einrichtungen“, somit auch bei Einführung eines Systems zur Arbeitszeiterfassung, weil es grundsätzlich geeignet sei, auch das Verhalten oder die Leistung der Arbeitnehmer zu überwachen. Im Sinne eines Mitgestaltungsrechts könne der Betriebsrat grundsätzlich auch die Initiative zur Einführung ergreifen, denn es handele sich – so das LAG – bei § 87 Abs. 1 BetrVG nicht „nur“ um ein „Vetorecht“. Mit dieser Entscheidung hatte sich das LAG in Widerspruch zu einer früheren Entscheidung des BAG gesetzt.
Betriebsrat ohne Mitbestimmungsrecht
In der Revisionsinstanz urteilte das BAG nunmehr zugunsten der Arbeitgeberseite. Es begründete dies jedoch damit, dass der Betriebsrat deshalb kein Mitbestimmungsrecht habe, weil der Anwendungsbereich des § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG nicht gegeben sei. Die Norm habe nämlich zur Voraussetzung, dass es eine entsprechende gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht gebe. Im Falle der hier streitigen Einführung einer Arbeitszeiterfassung im Betrieb existiere bereits eine gesetzliche Regelung und zwar im Arbeitsschutzgesetz. Dies ergebe sich bei richtiger (europarechtskonformer) Auslegung aus der Vorschrift des § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz. Danach sei jeder Arbeitgeber verpflichtet, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst wird. Es handele sich um eine gesetzliche Pflicht jedes Arbeitgebers, weshalb das im Streit stehende Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats von Anfang an ausgeschlossen sei.
Pflicht zur Arbeitszeiterfassung
§ 3 Abs. 1 Arbeitsschutzgesetz verpflichtet den Arbeitgeber, „die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung der Umstände“ zu treffen, die „die Sicherheit und Gesundheit von Arbeitnehmern während der Arbeitszeit beeinflussen“ können. Die von dem BAG ausdrücklich herangezogene Regelung in § 3 Abs 2 Nr.1 des Arbeitsschutzgesetzes lautet: „Zur Planung und Durchführung der Maßnahmen nach Abs. 1 hat der Arbeitgeber …. für eine geeignete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel bereitzustellen“. Aus alledem folgt nach dem BAG letztlich die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung durch den Arbeitgeber in jedem Arbeitsverhältnis in seinem Betrieb.
Fest steht nach dem Urteil des BAG also, dass jeder Arbeitgeber verpflichtet ist, ein System der Arbeitszeiterfassung in seinem Betrieb einzuführen. In der Konsequenz bedeutet dies wohl das Ende der Vertrauensarbeitszeit. Flexible Arbeitszeit und das Arbeiten im Home-Office werden komplizierter. Der Verwaltungs- und Kostenaufwand für den Arbeitgeber steigt in all diesen Fällen wohl deutlich an.
Wie soll die Arbeitszeit künftig erfasst werden?
Wie und in welcher Form die Arbeitszeit zu erfassen ist, bleibt völlig offen. Die elektronische Zeiterfassung ist nicht obligatorisch. Die Möglichkeiten sind vielfältig – von der Excel-Tabelle bis hin zum Stundenzettel.
Der Gesetzgeber ist jetzt gefragt, zeitnah klare gesetzliche Regelungen zu schaffen und für die Praxis eindeutige Rahmenbedingungen zu setzen. Er hatte seit Mai 2019 Zeit, einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 14.09.2019 (EUGH C-55/18) zu folgen und die Verpflichtung umzusetzen, eine verlässliche Regelung zur Arbeitszeiterfassung zu schaffen. Eine gesetzliche Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung gibt es im deutschen Arbeitsrecht bisher nur in wenigen Ausnahmefällen, so etwa im Mindestlohngesetz bei Teilzeitbeschäftigung (§ 17 MiLoG).